Text by Leoni Fischer

Mystery and expectation grow along with wonderment at it all. It is the thrill of seeing, as if for the first time, the pure existence of things.“ (Antoni Tàpies, Nothing is too petty, 1970)

Ein verlassenes Gebäude irgendwo da draußen. Der Raum ist kühl, starr drücken die massiven Wände das Volumen in die Erde. Selbst wenn sie wollten könnten sie nicht weichen und so stehen sie da. Den Eindrücken der Zeit ausgeliefert wurden sie zum Relief, ihre oberen Schichten erzählen Geschichten – von Zufall, Aufstand, Liebe, Wetter, Zeit, Ideologie. Was sehen wir? Rostige Flecken, Fragmente eines Graffiti in Neonfarben, Maserung der Holzverschalung im Beton, brachiale Furchen, feine Kritzeleien, verwitterter Backstein, brüchige Kacheln. Hier lässt Julia Eichler die Mauern Zeugenschaft über ihre eigene Widerständigkeit ablegen.

Weiße Fliesen ummanteln ein vieleckiges Volumen. Ein spitz zulaufender Keil kragt weit aus einem rechteckigen Sockel und lässt das Gebilde so aussehen, als wäre es das überdimensionale Kopfteil einer Axt. Am Fuß des Blocks wirkt es so als fehle eine Reihe einzelner Kacheln, darunter scheint eine vergilbte Betonfläche hervor.

Doch plötzlich wird klar: hier ist alles in sein Gegenteil verkehrt. Die Fugen zwischen den Kacheln wölben sich nach außen und lassen die Flächen zurücktreten, sie fühlen sich trocken und warm an und auf Druck hin geben sie ein wenig nach. Was gerade unverrückbar und gewaltig erschien steht einem nun als fragiles Gebilde gegenüber und seine ganze Statur entblösst sich auf den zweiten Blick als statisch unsicher. Als Teil der gleichnamigen Serie ist „Keil I“ der erste von zweien. Dazu gehört auch „free jump“, ein feingliedrigeres Gebilde, das im Gegensatz zu den monolithischen Keilen aus mehreren Einzelteilen verschiedener Baumaterialien zusammengesetzt zu sein scheint. Ein paar Stufen im Fliesenlook bilden den Sockel, daraus sticht ein Aluminiumgestänge hervor welches wiederum ein flaches, längliches Element auf sich balanciert. Am hinteren Ende durch einen polygonalen Block in Betonoptik beschwert, changiert die ganze Assemblage irgendwo zwischen Bügelbrett, Flugzeug und Sprungturm – und schwebt dabei sichtlich in Gefahr nach hinten überzukippen, würde es nicht gleich vorne durch die Last eines zaghaften Schwimmers ausgewogen. Erstaunlicherweise steht es trotzdem, auch ohne menschliches Gegengewicht.

Wir haben es also mit Oberflächen zu tun, gezeichnete Häute die von der Künstlerin auf neue Körpern transplantiert werden. Was ist heute eigentlich noch real? Könnte man sich fragen während einem bewusst wird vor einem Trockenbau aus Pappmaché zu stehen. Doch Eichlers Wände erschweren ein solches Urteil, denn auf der Oberfläche haften die ganz eigentlichen Betonbrösel, die feinen Gips- und Farbflächen und der Flugrost. Der Prozess, an dessen Beginn Eichler die Mauern mit grauem Pappmaché ummantelt, erscheint vielmehr als achtsames „In Sorge-Bleiben“ um die Ruinen der Stadt. Für einige Zeit verschwinden deren Wunden unter einem feuchten Pflaster, dann folgt eine Zeit des Wartens, bevor sie die getrocknete Exuvie* der Architektur von der Wand nimmt. Indem die oberste, locker gewordene Lage der Substanz sich mit dem Maché verbindet, archiviert die Künstlerin Schicht um Schicht die Chronik des Zerfalls und sensibilisiert damit unsere Augen für dessen ästhetischen Qualität.

Wände wie Häute sind seit jeher Schauplätze von Kommunikation. Und so finden sich auch in Eichlers Archiv endlose Schrift- und Zeichenfragmente, die nicht immer leicht zu ertragen sind. Auf einer Platte etwa, prangt ein krakeliges Hakenkreuz. Die kritische Beschäftigung mit Ideologie und der Kontinuität von Machtsymbolik, die ein solches Dokument erfordert, lässt an die Arbeiten Justin Matherly’s denken. Dessen Arbeit „A concern altering pure feature (e.t.s.p.n.g.l.)“ von 2013 ist die Nachbildung einer antiken Skulptur auf dem türkischen Nemrut-Berg. Auch diesem Relikt aus früherer Zeit haben Unwetter und Erdbeben schwer zugesetzt. Im Berliner Bunker der Boros Collection, wo das Werk kürzlich zu sehen war, lässt sich der Adler jedoch gleichsam als ruinierte Version eines monumentalen Bundesadler deuten, der sich Betrachter*innen auf dünnen Krückenbeinen in den Weg stellt. Sein lädiertes Aussehen verweist auf die Vergänglichkeit von Macht ohne ihr hineinwirken in die Gegenwart gänzlich zu verleugnen. Auch Julia Eichler behält sich vor, die Zeichen auf den Wänden und die Konnotationen des Materials zu dekontextualisieren. Ein wichtiger Aspekt ihres Umgangs mit dem Material ist daher das Collagieren und der Zuschnitt verschiedner „Häute“, die sie zu imaginären Baukörpern neu zusammenfügt. So vereinen sich auch hier der Pathos vergangenen Glanzes mit der Pathologie der Ruine und es wirkt fast, als könnten Matherlys morbide Wesen Eichlers Welt der gehäuteten Architekturen bevölkern.

Trotz aller Oberfläche, beschleicht einen beim Betrachten von Eichlers Skulpturen letztlich das paradoxe Gefühl, einen Blick hinter die Dinge zu erhaschen. Neugieriges Misstrauen zieht sich langsam an den Wänden hoch und über die Haut. Der Boden rutscht unter den Füßen weg, als wäre er nie eine feste Basis gewesen und der Raum morpht sich zur bloßen Hülle. Durch das ent-täuscht werden, das sich im Kontakt mit Eichlers täuschend massiv wirkenden Konstrukten einstellt, erlebt die wahrgenommene Realität einen Bruch. Doch gerade in einer Gegenwart, in der Fake News und montierte Bilder allgegenwärtig sind, schafft es Julia Eichler den Blick für die bare Existenz der Dinge zu schärfen und ermöglicht uns, über deren Rätselhaftigkeit zu staunen.

* auch Exuvia, „Häutungshemd“ ist die im Wachstumsprozess abgeworfene Haut von Häutungstieren.